Amoral – „Ich liebe Monster und Horrorfilme“
Als Technical-Death-Metal-Band 1997 gestartet, hat sich die finnische Band Amoral heutzutage progressiven Melodic-Metal-Riffs verschrieben. Und am Mikrofon steht Ari Koivunen, der seinerzeit mal die finnische Pop-Idol-Show gewann. Er löste 2008 Growler Niko ab – seitdem klingt die Band sehr viel melodischer als in den Anfangstagen. Zuletzt waren die fünf Finnen mit Dark Tranquillity auf Europa-Tournee, um ihr aktuelles Album „Fallen Leaves & Dead Sparrows“ live vorzustellen. Das letzte Konzert fand dabei am 23. November 2014 in Köln statt. Vor der Show trafen wir Amoral-Gründer und -Gitarrist Ben Varon sowie Gitarrist Masi Hukari im Tourbus zum Interview.
NEGAtief: Wie ist die Tour bisher für euch verlaufen? Seid ihr noch motiviert oder eher froh, dass heute Abend alles sein Ende findet?
Ben: Die Tour war bisher wirklich cool. Alle kommen gut miteinander aus – sowohl die vier Bands als auch Crew-Mitglieder. Das ist nicht immer der Fall: Oft gibt es Streitereien zwischen Bands und Crew-Mitgliedern. Aber in unserer Truppe ist jeder supercool drauf. Deshalb könnten wir noch einen Monat so weitermachen, aber ich freue mich natürlich auch auf Zuhause. Denn dort wartet mein drei Monate alter Sohn auf mich. Gerade deshalb ist es Zeit, nach Hause zu kommen! Aber die Tour war großartig und die Zuschauer haben uns zumeist gut aufgenommen. Schön ist es, dass uns als direkter Support von Dark Tranquillity eine Spielzeit von 50 Minuten anstatt der üblichen 30 gegönnt wird. Wir hatten eine insgesamt tolle Zeit – insbesondere gestern haben wir noch lange gefeiert, waren bis 9 Uhr wach und sangen Michael-Jackson-Songs … natürlich ein bisschen betrunken.
NEGAtief: Habt ihr während der letzten Tage nur den Bus und die Locations von innen gesehen oder hattet ihr auch Zeit und Muße für ein bisschen Sightseeing und Shopping?
Ben: Man hat Zeit, wenn man sie sich gönnt. Ein paar Leute wollen einfach nur im Backstage-Bereich sitzen und auf ihr iPad starren, andere gehen raus. Ich liebe es, mir Orte anzuschauen – wenn es nicht regnet und wir zufällig im Nirgendwo sind. Das erste, was ich dann morgens auf Tour mache: Ich trinke eine Tasse Kaffee und schaue mir anschließend die Stadt an.
NEGAtief: Bist du auch heute in Köln rumgelaufen?
Ben: Nein, denn wie bereits erwähnt, sind wir erst heute Morgen um 9 Uhr ins Bett gekommen. [lacht] Der Tag war also sehr verschlafen.
NEGAtief: Die Musik von Amoral hat sich über die Jahre stark gewandelt. Heutzutage definiert ihr euren Sound als „Classic Rock Of The 21st Century“. Wie kam es dazu?
Ben: Wir sind nun schon seit über zehn Jahren eine Band. Unser Debüt-Album ist dieses Jahr 10 geworden. Begonnen hat alles im Alter von vielleicht 15 Jahren mit Drummer Juffi. Er ist noch immer in der Band – zusammen mit zwei ursprünglichen Bandmitgliedern – last men standing sozusagen. Auf den ersten drei Alben waren wir noch mehr eine Technical-Death-Metal-Band – mit technischen Riffs und Schreigesang. Dann verließ uns 2008 unser Sänger und wir fanden Ari als Ersatz. Von jenem Zeitpunkt an wurden wir melodischer, zumal wir auch einfach mal etwas Neues ausprobieren wollten. Also widmeten wir uns Melodic-Rock- und Hard-Rock-Klängen, zu denen die melodischen Vocals passten. Dann fokussierten wir uns ein wenig darauf, eine eigene Nische im Prog-Rock-Bereich zu finden. Ich denke schon, dass man unsere Musik als „proggy“ bezeichnen kann. Wir haben lange Songs, Keyboard-Sounds der alten Schule, lange Gitarrensoli… Mittlerweile haben wir sechs Alben veröffentlicht und das Neueste, mit dem wir aktuell touren, nennt sich „Fallen Leaves & Dead Sparrows“. Nach dieser Tour, sobald wir wieder daheim sind, werden wir weiter neues Material schreiben. Im Frühjahr 2015 werden wir schließlich unser siebtes Album aufnehmen.
NEGAtief: Aris Stimme klingt komplett anders als die seines Vorgängers Niko Kalliojärvi. Wie haben die Fans auf den Sängerwechsel reagiert?
Ben: Das war eine harte Zeit. Sie reagierten heftig – sowohl in negativem als auch positivem Sinne. Für eine Weile fühlte es sich so an, als würde uns jeder hassen. Aus irgendeinem Grund nahmen es einige Leute sehr persönlich, dass wir den Sänger und unseren Stil gewechselt haben. So nach dem Motto: „Wie könnt ihr es wagen, dies zu tun? Ihr seid eine Death-Metal-Band! F*** you, gerade weil ihr euch für Ari entschieden habt! Er hat beim Pop-Idol-Wettbewerb mitgemacht – das ist Verrat!“ Eine Zeitlang waren wir also nicht sehr beliebt und verloren zahlreiche Fans. Aber ich bin froh, dass einige von ihnen wieder zu uns gestoßen sind, nachdem sie die neuen Platten gehört haben. Sie stellten fest: „Okay, ihr Jungs scheint doch ganz in Ordnung zu sein. Deshalb gebe ich euch eine weitere Chance.“ Darüber hinaus gewannen wir auch viele neue Fans, viele Leute, die keinen Growl-Gesang mögen. Denn plötzlich waren wir ja eine melodische Band.
NEGAtief: Aber Ari schreit zwischendurch auch schon einmal…
Ben: Ja, das stimmt. Wir möchten das auch weiterhin als Element in unserer Musik beibehalten. Doch der Fokus liegt auf melodischem Gesang.
NEGAtief: Amoral besteht aus insgesamt fünf Bandmitgliedern. Doch ist die Band auch demokratisch?
Ben: [lacht] Masi sitzt dort drüben. Er kann es dir erzählen!
Masi: Ben hat immer das letzte Wort.
NEGAtief: Du bist also der Boss, Ben?
Ben: Einer muss es ja sein…
Masi: In Bands funktioniert Demokratie nicht. Wenn eine Band sagt, sie sei demokratisch, wird sie sich in drei oder fünf Jahren auflösen. Das funktioniert einfach nicht und wird es auch niemals tun.
NEGAtief: Man braucht also immer jemanden, der Entscheidungen fällt?
Ben: Ja, nur so bekommt man Dinge erledigt. Jemand muss sicherstellen, dass es vorwärts geht, dass alles pünktlich erledigt wird, und einfach den Überblick behalten. Und ich bin nun mal dieser jemand, zumal ich von Beginn an in der Band bin…
NEGAtief: Wie schaut es beim Songwriting aus? Ist jeder involviert?
Ben: Beim Songwriting gibt es keinerlei Regeln, aber die meisten Songs habe ich geschrieben – zumindest, was das neue Album anbelangt. Darüber hinaus arbeitete ich auch viel mit Masi zusammen und sogar unser Bassist schrieb diesmal Musik für Amoral. Fürs nächste Album habe wiederum ich sehr viel geschrieben. Das wechselt ständig.
NEGAtief: Was waren deine Inspirationsquellen fürs aktuelle Album?
Ben: Die Musik betreffend ist alles möglich – was auch immer aus unserer Feder kommt. Fürs aktuelle Album haben wir gewisse Richtlinien festgelegt. In der Vergangenheit schrieben wir einfach, was uns in den Sinn kam, und wenn es uns allen gefiel, fand es seinen Weg auf ein Album. Diesmal wollten wir allerdings einen Rahmen setzen. Das Album sollte glatter werden, die Songs sollten lang und progressiv sein. Der Hard Rock sollte in den 80ern und der Schreigesang fern bleiben. Es war cool, dass wir diese gewissen Richtlinien hatten und uns beim Songwriting an ihnen orientieren konnten. Außerdem arbeitet man immer am effektivsten, wenn es Deadlines gibt.
NEGAtief: Wenn also der Druck auf einem lastet…
Ben: Genau. Das mit den Richtlinien war für uns eine komplett neue Erfahrung, aber es hat funktioniert.
NEGAtief: Handelt es sich eigentlich um ein Konzeptalbum?
Ben: Ja, tut es. Das hat sich zufällig so ergeben. Ich fing an, Musik zu schreiben, und dann stellten wir fest: „Hei, dieser Riff würde auch gut in jenen Song passen, und dieser melodische Part in den anderen Song.“ Dann sahen wir uns die Songtexte an – hier hatte ich bereits einiges im letzten Jahr geschrieben – und ich stellte fest, dass man auch aus den Texten ein Konzept basteln könnte, indem man die paar wenigen Themen nimmt und sie zu einer Gesamtstory zusammenfügt.
NEGAtief: Was sind jene Themen?
Ben: Ein Thema ist das ständige Bedürfnis und die ständige Suche nach Nostalgie und den guten alten Zeiten. Ich denke, das geht vielen Menschen so. Jeder blickt unentwegt auf seine Kindertage oder Teenagerzeit zurück, als alles noch besser war: Die Musik klang besser, das Eis schmeckte besser, die Sommer waren länger und die Sonne schien heller. Natürlich trifft das bei Weitem nicht alles zu, doch es fühlt sich immerhin so an. Der Protagonist auf dem Album schert sich also nicht um die Zukunft, sondern will einfach nur zurück: in eine alte Beziehung, an einen bestimmten Ort, in seine Heimat – auf dem Album ist das nicht genauer definiert. Doch auch wenn ich selbst die nostalgischste Person auf der ganzen Welt bin, so denke ich dennoch, dass man nach vorne schauen sollte.
NEGAtief: Scheint, als sei das Album sehr persönlich…
Ben: Ja, das ist es, insbesondere die Lyrics. Es geht auch viel ums Älterwerden, denn zu jener Zeit wurde ich 30.
NEGAtief: Hattest du nicht letzte Woche erst Geburtstag?
Ben: Ja, da bin ich dann 31 geworden. Aber das ist nichts! Fieser ist es, 30 zu werden. Man fühlt sich alt, alles ist vorbei…
Masi: Nun ja, ich werde in zwei Jahren 40.
Ben: Oh, dann müssen wir ein Doppelalbum veröffentlichen, wenn du 40 wirst. [Gelächter] Ein Boxset mit DVD! Aber ja, das Alter war definitiv eine Inspirationsquelle. Habe ich die richtigen Entscheidungen getroffen? Bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich mit 30 Jahren auch sein sollte? Was hätte ich anders machen können?
NEGAtief: Was waren die Herausforderungen beim Aufnahmeprozess? Hast du das Album nichts sogar hauptsächlich selbst produziert?
Ben: Ja, das war die Herausforderung des letzten Albums, alles selbst zu machen, was wir bis dato nie gewagt haben. Wir waren immer von Anfang bis Ende im Studio. Aber dieses Mal haben wir nur das Schlagzeug ein paar Tage lang im Studio aufgenommen. Dann setzten Masi und ich die Arbeit in meinem Musikzimmer fort, nahmen die Gitarren und den Bass selbst auf sowie die Keyboards – und ich denke, wir haben einen guten Job geleistet. Normalerweise dauert es gut drei Wochen mit den ganzen Aufnahmen, aber diesmal waren es mehrere Monate. Schließlich mussten wir einiges dazulernen. Man ist einfach schneller, wenn Profis die Knöpfe drücken. Nichtsdestotrotz hat alles gut geklappt, denke ich, und somit werden wir auch das nächste Album wieder selbst produzieren.
NEGAtief: An welcher Stelle kam Marco Hietala (Nightwish, Tarot) an Bord und wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit ihm?
Ben: Das war schon einige Jahre im Gespräch. Seit Ari bei Amoral eingestiegen ist, äußerste sich Marco, dass er Spaß daran hätte, mal den Gesang zu produzieren. Die beiden kennen sich. Aber jedes Mal, wenn wir ein neues Album aufnahmen, war Marco mit Nightwish beschäftigt. Dieses Mal war er allerdings zu Hause und sagte: „Jungs, wenn ich euch helfen soll, seid willkommen!“ Als die Gitarren dann aufgenommen waren, nahmen Ari und ich den Zug nach Kuopio, wo wir für eine Woche wohnten. Und jeden Tag verbrachten wir in Marcos kleinem Heimstudio. Ari konnte sich dort voll und ganz auf den Gesang konzentrieren. Marco teilte derweil seine Ideen mit mir – das war ziemlich cool und vertraut. Er war generell einfach super cool! Und das zeigt sich meines Erachtens auch auf dem Album. Ari hat noch nie zuvor so gut geklungen.
NEGAtief: Ist er eigentlich noch mit seinem Soloprojekt aktiv?
Ben: Ich habe keine Ahnung, was er so alles macht. Er erzählt immer einiges, aber nicht vom Soloprojekt Ari Koivunen. Ich denke, das existiert nicht mehr. Er hat dafür verschiedene andere Musikprojekte am Start, beispielsweise agiert er in einem finnischen Musical, spielt Duo-Akustik-Gigs in Bars etc. Das ist es, was er macht!
NEGAtief: Und du selbst? Hast du neben der Musik noch Hobbies oder andere Jobs?
Ben: Ja, das haben wir. Alle bis auf Ari.
NEGAtief: Das Business ist hart…
Ben: Ja, es wirft nicht viel Geld für uns ab. Einige Nächte pro Woche bin ich DJ in einem Rockclub in Helsinki, was recht cool ist. Ich mag den Job. Darüber hinaus spielen wir noch in anderen Bands, um den Kopf frisch zu halten.
NEGAtief: Was wirst du als erstes tun, wenn du Morgen wieder zurück in Finnland bist?
Ben: Ich kann es kaum erwarten, meine Familie wiederzusehen. Dann werde ich mich wohl um einen Berg voll Wäsche kümmern und wenn noch Schnee in Finnland liegt, ein bisschen Schnee schippen. [lacht]
NEGAtief: Es liegt bereits Schnee in Helsinki?
Ben: Ich weiß nicht, wie es aktuell dort ausschaut. Aber es gab bereits Schnee in Helsinki. Ich hoffe, es liegt keiner mehr… Wäre cool, wenn ich den Schnee einfach so bestellen könnte, wann es mir beliebt. Dann würde ich ihn für den 23. Dezember ordern, um eine weiße Weihnacht zu haben, und dann am 27. Dezember wieder abbestellen.
NEGAtief: Hast du dir schon über Weihnachtsgeschenke Gedanken gemacht?
Ben: Noch nicht, aber ich bin mir sicher, dass ich in Stimmung komme, sobald ich wieder daheim bin. Ich bin ein Weihnachtsmensch: Ich liebe das Essen, die Plätzchen, Geschenke und all diese furchtbaren amerikanischen Weihnachtsfilme. Wir haben die Tradition, dass wir diese den ganzen Dezember über gucken.
NEGAtief: Du bist also eine traditionsbewusste Person?
Ben: Ja, das bin ich. An Weihnachten kommt immer die gesamte Familie zusammen.
NEGAtief: Habt ihr dieses Jahr auch Halloween gefeiert?
Ben: Ja, haben wir, denn ich liebe Monster und Horrorfilme. Wenn wir einmal im Jahr eine Party in unserem Haus schmeißen, dann an Halloween, denn mein Heim schaut so oder so wie ein Halloween-Haus aus: viele Horrorposter, eine Jason-Voorhees-Statue im Wohnzimmer. So sieht es dort immer aus!
NEGAtief: Was erwartet uns bei eurer heutigen Show?
Ben: Die letzten beiden Shows waren die besten der gesamten Tour, deshalb hoffe ich, dass wir heute Abend nicht zu verkatert sind. Ich denke, unser Zusammenspiel wird immer besser. Jeder fühlt sich nun wohl auf der Bühne. Wir sind eine seltsame Band, die immer erstmal ein paar Shows braucht, um in Form zu kommen. Nun liegen 16 Shows hinter uns und ich denke, wir sind bereit! [lacht] 50 Minuten lang werden wir viel neues Material präsentieren, ein bisschen Gitarren-Geschredder und hohen Gesang. Das wird toll! Und da es die letzte Show ist, wird es ein paar kleine Überraschungen geben…
Interview & Fotos: Lea Sommerhäuser
27 November 2014 Sascha Blach